· 

Erzählende Affen: Mythen, Lügen, Utopien – Wie Geschichten unser Leben bestimmen (El Ouassil & Karig, 2021)

Darum geht es in diesem Buch

Carl Naughton (2018): Neugier – So schaffen Sie Lust auf Neues und Veränderung.

Eine starke Geschichte kann die Welt retten – oder sie zerstören. Geschichten sind mächtig. Und sie haben uns zu dem gemacht, was wir heute sind.

 

Unsere Ahnen nutzten Geschichten nicht nur zur Unterhaltung. Sie teilten damit im flackernden Licht der Flammen auch Informationen und Botschaften miteinander. Durch das Erzählen und Hören von Geschichten trainierte der frühe Mensch sein Verhalten bei Gefahr. Die Erzählungen waren überlebenswichtig und haben die Evolution der Menschheit nicht nur beeinflusst, sondern auch beschleunigt. 

 

Samira El Ouassil und Friedemann Karig zeigen in ihrem Buch auf anschauliche Weise, warum Geschichten auch heute noch unser Leben bestimmen. Sie sind ein wichtiger Teil unserer Sozialisation. Durchdringen Politik, Medien und Kultur. Lehren und unterhalten uns. Verführen uns und beeinflussen unsere Wahrnehmung.

 

Das Autorenteam beschreibt eindrücklich das Potenzial, Menschen mit Erzählungen zu bewegen und damit unsere Zukunft zu verändern. Vieles liesse sich durch die Kraft neuer Geschichten zum Positiven lenken – Rassismus, Geschlechter-Ungerechtigkeit,  Umweltverschmutzung.

 

Die Autor*innen warnen aber auch davor, dass wir uns immer wieder von den gleichen uralten Geschichten verführen lassen. Eine davon ist die Erzählung, jeder Mensch sei für sein Glück selbst verantwortlich. Eine gefährliche Geschichte, die suggeriert: Wer scheitert, ist selber schuld. Dabei liegen die wahren Ursachen für unsere Schicksale in den allermeisten Fällen beim System. Warum wir dennoch daran glauben? Menschen mögen es simpel. Die individuelle Reise ins Glück lässt sich einfach besser erzählen.  

 

Menschen lieben (Helden-)Geschichten. Besonders attraktiv ist für uns der Aufbau auf der Trilogie Antagonist (Gegenspieler) – Krise – Held. Das stellt uns vor ein gewaltiges Problem: Denn die grösste Bedrohung unserer Zeit ist allumfassend. Die Klimakrise ist abstrakt und zeitlich undefinierbar. Sie ist zu komplex, um sie mit unserer narrativen Art zu Denken zu vereinbaren. Es gibt keinen klaren Verlauf und kein klares Ende. Wer sind die Schuldigen? Wer sind die Held*innen dieser Krise? Wer trägt die Verantwortung? Unsere geliebte Heldengeschichte funktioniert hier nicht. 

 

Geschichten können Systeme stützen. Im Fall der Klimakrise ist die Öl-Industrie der grösste Profiteur des Status quo. Aktuell setzt sie den Bedeutungsrahmen so, dass wir alle schuld an der Krise haben und die Lösung des Problems im Verzicht jedes Einzelnen zu finden sei. In dieser Geschichte sind wir alle scheiternde Held*innen. Die Mächtigen präsentieren uns die mögliche Zukunft als Verlustgeschäft für die Menschheit. Nach El Ouassil und Karig könnte man die Geschichte der Klimakrise aber auch ganz anders erzählen: mit dem Fokus auf unseren Gewinn. Wenn es uns gelingt, die Klimakrise zu bewältigen, bedeutet das für uns mehr als eine gewisse Stabilität und das Überleben unserer Spezies. Anstatt auf das Negative zu fokussieren, könnten wir uns erzählen, in welcher Welt wir leben wollen und worüber wir uns in Zukunft freuen werden. Wir könnten unsere Aufmerksamkeit auf «Banalitäten» wie bessere Luft, saubere Flüsse und gesünderes Essen lenken.

 

Das Autorenteam ist überzeugt: Neue Erzählungen (Narrative) können die Welt besser machen. Framing (das Setzen von Bedeutungsrahmen) und Propaganda sollten wir nicht den Lobbyisten überlassen. Ihre Instrumente lassen sich auch für Gutes nutzen.  Wir sollten damit beginnen, gute neue Geschichten zu erzählen – und dann auch tatsächlich danach handeln, um die für uns wünschenswerte Zukunft zu erreichen.

Deshalb habe ich dieses Buch gelesen

Ich bin Texterin und Journalistin. Geschichten zu erzählen, ist ein Teil meiner Arbeit, den ich besonders liebe. Wenn du meine Texte liest, entstehen in deinem Kopf Bilder. Du liest meine Gedanken. Wir sind – unabhängig von Zeit und Raum – miteinander verbunden.

Als «professionelle Geschichtenerzählerin» bin ich mir der Macht von Worten bewusst. Dass Geschichten unsere Geschichte beeinflussen, weiss ich nicht erst seit der Lektüre der beiden (ebenfalls empfehlenswerten) Bücher «Einspruch! Verschwörungsmythen und Fake News kontern» und «Politisches Framing: Wie eine Nation sich ihr Denken einredet – und daraus Politik macht». Während meinem Zeitgeschichte-Studium hat sich die Wirkmacht von Erzählungen in Vorlesungen und Seminaren zur NS-Propaganda im Dritten Reich eindrücklich gezeigt. Sie ist beängstigend. Umso mehr in Zeiten, in den Fake News sich epidemisch verbreiten.

Ich möchte verstehen. Warum existiert diese Macht der Geschichten? Was macht sie mit uns? Und wie können wir sie nutzen, um Gutes zu tun?

Was ich aus diesem Buch mitnehme

  • Geschichten haben die menschliche Evolution beschleunigt. Unsere Ahnen haben überlebt, weil sie sich am Feuer von den Heldentaten und den Fehlern anderer erzählt haben. Die Menschheit haben sich nicht nur vertikal (durch Weitergabe der Gene von der einen Generation zur anderen) sondern auch horizontal (durch Weitergabe von Informationen von der einen Generation zur anderen) weiterentwickelt.
  • Die Geschichten, die wir uns über die Zukunft erzählen, sind wichtig. Wir erzählen uns (selbst und einander), was die wahrscheinlichste und was die wünschenswerteste Zukunft ist. In der Gegenwart versuchen wir uns so zu verhalten, dass wir Letztere erreichen. Wir können und müssen uns bewusst positive Geschichten über unserer Zukunft erzählen!
  • Geschichten sind identitätsstiftend. Die Idee von unserer Identität erhalten wir nur durch die Erzählung von anderen und von uns selbst.
  • Wir SIND Geschichten! Alles, was wir denken, ist eine narrative Interpretation von Information. Ohne Geschichten können wir nicht denken. Ohne sie haben können wir uns nicht von unserer Identität erzählen. 
  • Haben Heldengeschichten ausgedient? Die grossen Narrative der Menschheit werden in Form von Heldengeschichten erzählt. In der aktuellen Geschichte der Klimakrise sind wir alle scheiternde Held*innen; wir müssen neue Formen für unsere Erzählungen finden.
  • Menschen verlangen nach Erklärungen. Ob sie falsch sind oder nur halbwegs funktionieren, ist unwichtig. An Erklärungen kann man sich festhalten. Die Zufälligkeit des Seins hingegen ist für Menschen unerträglich. 
  • Andere Meinungen mögen wir nicht, weil sie die Existenz unseres Ichs bedrohen. Sie zwingen uns, eine andere Version von uns selbst zu denken und uns damit selbst infrage zu stellen. Was unserer eigenen Meinung widerspricht, führt punktuell zu einer existenziellen Krise.
  • Beim Lesen und Schreiben geht es um Gedankenübertragung.
  • Schon einzelne Worte tragen ganze Geschichten in sich. Wir erzählen uns vom Klimawandel (statt von der Klimakrise) und kaschieren damit die katastrophalen Ausmasse der Erderwärmung. Wir erzählen uns vom Wachstum und vergessen, dass Ressourcen beschränkt sind.
  • Wir können und müssen uns unsere eigenen Geschichten der Zukunft erzählen. Wir sollten nicht die Mächtigen die Bedeutungsrahmen für uns setzen lassen. 
  • Auch Worte sind Taten.

Denkansätze

Diese Passagen haben bei mir bleibenden Eindruck hinterlassen. Klick auf die Kacheln, um die Ansicht zu vergrössern.

An diese Menschen habe ich beim Lesen öfter gedacht

 An meine Kinder, weil ich für euch die Geschichte einer positiven Zukunft erzählen will und muss.

Das würde ich den Autor:innen dieses Buches gerne sagen

Liebe Samira, lieber Friedemann

Euer Buch ist tatsächlich eines der besten, klügsten und wichtigsten (!), die ich bis jetzt gelesen habe. Es verändert alles.

Plots, Geschichten, Erzählungen – plötzlich erkenne ich überall die Muster. Als «professioneller erzählender Affe» habe ich die Chance, einen Beitrag für eine gute Zukunft der Menschheit zu leisten:

  • Ich will keine Heldin sein.
  • Ich will ein erzählender Affe sein.
  • Ich will die Geschichte einer guten Zukunft erzählen.
  • Ich wette auf ein Happy End.
  • Ich bin mutig.
  • Ich verbünde mich mit jenen, die bisher nur zu träumen wagten.
  • Ich warte nicht auf den Auslöser.
  • Ich handle.

Danke auch für euren Wortwitz und die klugen Fussnoten. Sie haben die fast 500 Seiten in ein schnelles Lesevergnügen verwandelt.

Herzlich,

Barbara aka ein erzählender Affe

Hier kannst du dieses Buch kaufen


Zum Beispiel bei Orell Füssli oder bei Amazon.

Hinweis: Ich bin Partnerin von Orell Füssli und Amazon. Die Links, die ich hier mit dir teile, sind sogenannte Affiliate-Links. D.h. wenn du eines der Bücher darüber kaufst, erhalte ich eine kleine Provision. Auf den Preis, den du bezahlst, hat das keinen Einfluss. Danke für deine Unterstützung!



HAST DU DIESES BUCH GELESEN? LASS UNS GERNE IN DEN KOMMENTAREN DARÜBER DISKUTIEREN.


Kommentar schreiben

Kommentare: 0