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Angepasst. Strebsam. Unglücklich. – Die Folgen der Hochleistungsgesellschaft für unsere Kinder (Margrit Stamm, 2022)


Darum geht es in diesem Buch

Da läuft etwas schief in unserer Hochleistungsgesellschaft. Das System setzt auf leistungsstarke Schüler*innen, auf hohe Bildungsabschlüsse und Eltern, die ihre Kinder fördern und so den Erfolg ihres Nachwuchses ermöglichen. Das Resultat: Stress! Bei den Erziehungsberechtigten. Und vor allem bei den Kindern. Sie werden zu sogenannten «Überleister*innen». 

 

Die Kinder, die Psychologin Margrit Stamm in ihrem Buch beschreibt, leisten permanent mehr, als man von ihnen erwarten dürfte. Sie sind angepasst, unauffällig und erfolgreich. Nicht aufgrund ihrer Intelligenz oder ihrer Talente, sondern weil sie fleissig sind, ihre Eltern sie unterstützen und sie Druck verspüren. Das Perfide: Dieser Druck wird meist gar nicht explizit auf sie ausgeübt. Die Kinder spüren die Erwartungshaltung der Erwachsenen und setzen sich teilweise bereits im Grundschulalter selber unter Druck.

 

Margrit Stamm ist überzeugt, dass diese «Überleister-Kultur» ein unterschätztes Problem ist. Sie glaubt, dass dieses Phänomen der Grund für mangelnde Lernfreude und die zunehmenden emotionalen Probleme bei Kindern ist. 

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Das Buch «Angepasst, strebsam, unglücklich: Die Folgen der Hochleistungsgesellschaft für unsere Kinder» (2022) von Margrit Stamm ist definitiv ein Augenöffner. Ich hoffe, dass es ganz viele Eltern, Lehrpersonen und Menschen mit Entscheidungskraft lesen.

Margrit Stamms zentrale These

«Bildungspolitische und gesellschaftliche Entwicklungen wie Leistungsorientierung und Optimierungszwang, schulische Testkultur oder Akademisierungsbestrebungen sind Hauptursachen dafür, warum immer mehr Kinder auf Hochleistung getrimmt werden. Sie müssen Ergebnisse liefern, die eigentlich über ihren Fähigkeiten liegen. Diese Überleisterkultur ist ein gesellschaftliches Mandat, dem zu widerstehen für Schule und Elternhaus eine Herausforderung geworden ist. Es braucht deshalb einen Perspektivenwechsel hin zum authentischen Kind.»

Deshalb habe ich dieses Buch gelesen

Ich hadere nicht erst seit ich Mutter bin mit dem «immer mehr» und «immer besser» unserer Hochleistungsgesellschaft. Die BeURTEILung (schon das Wort allein finde ich ganz schlimm) von Kindern mit Noten, erachte ich als nicht zeitgemäss. Der Leistungsdruck, der bereits auf kleinen Kindern lastet und sich bis ins Erwachsenenalter weiterzieht, kann weder für das Individuum noch für die Gesellschaft gesund sein.

Leistung um jeden Preis? Sollten psychische Gesundheit, Glück und Sinnhaftigkeit nicht mehr zählen als Erfolg? Ich wünsche mir für meine (und alle anderen!) Kinder, dass sie intrinsisch motiviert ihren Weg gehen können. Die Rolle von uns Erwachsenen sehe ich darin, Kinder mit offenem Herz und viel Vertrauen auf ihrem (!) Weg zu begleiten, ihre Neugier statt sie selbst zu fördern und für sie da zu sein, wenn sie uns brauchen. 

Was ich aus diesem Buch mitnehme

  • Wir haben ein Problem! Mehr als 60 % der Kinder haben bereit im Grundschulalter eine Therapie hinter sich. Eines von zehn Kindern war schon in psychotherapeutischer Behandlung. Mehr als 10 % der Kinder leiden unter Schul- und Prüfungsangst. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie spricht von Burnout Kids und ihren Erschöpfungsdepressionen!
  • Die Aufgabe eines Kindes ist es, Kind zu sein. Das freie Spiel ohne Erwachsenenkontrolle macht heute nur noch 5 % der Wochenaktivitäten von Grundschüler*innen aus. Förderaktivitäten hingegen nehmen rund einen Viertel ihrer Zeit in Anspruch ... Einmal mehr möchte ich die Bedeutung des Spielens betonen: Ein spielendes Kind lernt und trainiert Softskills wie Neugier, Konzentration und Ausgeglichenheit ganz nebenbei. Es versenkt sich in simulierende Handlungen. (Lies hier gerne mehr zum Thema Spielen)
  • Viele Abschlüsse verlieren durch Akademisierung und Bildungsexpansion an Wert. Das System fordert immer noch mehr Leistung. Ein Abschluss jagt den nächsten. Wann ist eine «gute» Bildung «gut genug»? Wie schaffen wir es, dass nicht mehr Zertifikate für Wissen stehen, sondern die praktische Anwendung von Wissen? Kann nur jemand mit Abschluss Expert*in für ein Thema sein? Daran will ich nicht glauben.
  • Unsere «optimierte Konkurrenzgesellschaft» will ihr Leistungspotenzial ausschöpfen. Auf die tatsächlichen Fähigkeiten der Kinder und Jugendlichen nimmt sie kaum Rücksicht. Die Forderung nach Hochleistung ist zu einem gesellschaftlichen Mandat geworden. Es ist Zeit, das kritisch zu hinterfragen. Wir sollten endlich eine Debatte über das Auspressen des Leistungspotenzials unserer Kinder führen.
  • So wie sie sind, sind Kinder gut genug. Ihr Herz darf leben und wirken. Sie müssen nicht immer glänzen. Fast jedes Kind entwickelt sich von Natur ordentlich. Diese Entwicklung ist kompliziert und führt dazu, dass ein Kind nicht immer und in jeder Struktur perfekt «funktioniert». Kinder dürfen authentisch sein.
  • In einer auf Tests bezogenen Schulkultur haben Noten mehr Gewicht als der eigentliche Lernprozess. Finde den Fehler ...
  • Optimierung an sich ist nicht falsch. Aber: Optimieren wir Kinder, ist das unethisch. Wir strapazieren damit übermässig ihren Seelenhaushalt und nehmen ihnen die Zeit für den Seelentrost. Wer optimiert, will formen. Neigungen und Eigenheiten zählen nicht. Kindliche Optimierung fördert nicht, sie lähmt.
  • Etwa jeder dritte Platz im Gymnasium ist von «falschen» Jugendlichen besetzt. Hier lernen nicht, wie oft erwartet wird, «die intelligentesten 20 %». Es ist traurig, aber: Die soziale Herkunft ist für den Übertritt ins Gymnasium wichtiger als die Leistung.
  • Niemand sollte seinen (Selbst-)Wert von seiner Leistung abhängig machen. Oft ist für solche schiefen Selbstkonzepte eine hohe Leistungsorientierung in der Familie und der Schule ausschlaggebend. 
  • Eltern, habt angemessene Ziele für eure Kinder! Sind eure Erwartungen zu hoch, kann das die Entwicklung ihrer Leistung und ihr Wohlbefinden beeinträchtigen.
  • Ist ein Kind intrinsisch motiviert, zerstört eine Belohnung diese Motivation.
  • Kinder haben das Recht auf den heutigen Tag. Bildung und Erziehung müssen die Gegenwart, in der das Kind lebt, ernster nehmen und nicht immer nur die Zukunft im Blick haben. 

Menschen, an die ich beim Lesen dachte

  • an meine Kinder – immer!
  • an die Lernbegleiter*innen der Schule Arco Bern
  • an die Schulwandler*innen und Bildungspolitiker*innen in meinem Netzwerk

Begriffe, die ich mir merken will

Bulimie-Lernen kurzes, intensives Auswendiglernen mit dem Ziel, das Wissen im Anschluss einfach wieder auszuspucken

Eltern-Determinismus

 

Mütter und Väter werden für das Optimieren schulischer, musischer und sportlicher Fähigkeiten ihrer Kinder verantwortlich gemacht. Die Leistungsfähigkeit des Kindes und die Fähigkeit seiner Eltern, gute Eltern zu sein, wird kausal verknüpft.

Fahrstuhleffekt

 

 

 

nach Ulrich Beck; Die Bildungsexpansion hat allen Gruppen der Bevölkerung Vorteile gebracht, weil das Ausbildungsniveau insgesamt angehoben wurde und unsere Gesellschaft eine Etage nach oben befördert wurde. Die Folge: Der Bedarf nach Ausbildung wächst, ihr Wert aber sinkt. Wenn sich alle ähnlich verhalten und mehr in ihre Ausbildung investieren, zählt die beste Leistung weniger als bisher. (siehe auch Lehrer-Determinismus)

Fischteich-Effekt

big-fish-little-pond-effect

 

Die Leistungsstärke einer Klasse beeinflusst stark die Ausprägung der Selbstkonzepte von Schüler*innen. Aufgrund ihres meist niedrigen Selbstkonzepts ist ein leistungsstarkes Umfeld für das emotionale Wohlbefinden hochleistender Schüler*innen eher ungünstig. Sie profitieren eher von einer schwächeren Klasse.

Hochstapler-Phänomen

impostor phenomenon

Dieses Phänomen beschreibt Menschen, die eher tiefstapeln. Sie arbeiten hart für den Erfolg und wenn er sich einstellt, zweifeln sie an sich. Lob werten sie ab oder entkräften es. Betroffene sind überzeugt, dass es ihnen nicht zusteht.
Korrumpierungseffekt Ist ein Kind intrinsisch motiviert, schwächt oder zerstört eine Belohnung diese Motivation.

Lehrer-Determinismus

Die Lehrkräfte sind schuld, wenn ein Kind in der Schule nicht die erwarteten Leistungen erbringt. (siehe auch Eltern-Determinismus)

Macciavelli-Strategie

 

Väter und Mütter wollen vor allem die eigenen Ziele und Vorstellungen durchsetzen (nach Jean-Baptiste Hennequin) 

Mutter-Effekt

 

 

 

Die Erfahrungen des Kindes und die erzieherischen Faktoren rund um die schulische und ausserschulische Bildung sind wichtiger als die Gene. Was Eltern resp. Mütter tun, ist wichtiger, als wer sie sind. (PS. Dass dieser Effekt so heisst und so stark auf die Mutter fokussiert stört mich. Für den Namen ist Edward Melhuish verantwortlich.)

Risikogesellschaft

 

 

In unserer hoch entwickelten Gesellschaft gibt es immer mehr Risiken – soziale, ökologische, politische, und individuelle. Staatliche Kontrolleinrichtungen können sie nicht alle bewältigen. Die Risiken bestimmen zunehmend unsere Lebensbedingungen. (nach Ulrich Beck)

Self-Handicapper*in

 

 

 

 

erbringt sehr gute, über den Erwartungen liegende Schulleistungen / hat grosse Angst zu versagen / grosse Unsicherheitsgefühle / Bedürfnis, das eigene Kompetenzbild vor Feedbacks zu verstecken / die gute Bewertung von anderen steht im Mittelpunkt / banalisiert Leistungen / Für den Fall, dass sie nicht die erhoffte gute Leistung zeigen, beugen Self-Handicapper*innen vor: Sie schaffen für sich künstliche Hindernisse, die sie als Ausrede nutzen können.
Teaching on the Test Lerninhalte fokussieren auf das, was geprüft wird. Führt oft zu Bulimie-Lernen (s.o.).

Überleister*in

 

 

 

 

Schüler*in mit durchschnittlichen kognitiven Fähigkeiten und sehr guten Noten

Solche Kinder wirken wie Hochleister*innen, die fleissig lernen und sich Anforderungen anpassen können. Tatsächlich dürfen sie nicht mehr «normal» sein, weil Scheitern «verboten» ist. Schlechte Noten werden mit zusätzlichem Engagement ausgebügelt oder es wird nach einer Lernstörung gesucht, um nicht zufrieden stellende Leistungen zu legitimieren. Sie sind oft am Limit und stehen unter Dauerstrom.

Überleistung

overachivement

 

 

 

Das Ziel sind Bestnoten. Ganz egal welche Anstrengungen erforderlich sind und welche psychischen Beeinträchtigungen damit verbunden sind.

Erwartung an oder von Kinder/n, dass sie immer hochleistungsbereit sein sollen und in der Schule und/oder der Freizeit Ergebnisse liefern, die nicht selten über ihrem Motivations- oder Fähigkeitsniveau liegen. 

Die Kluft zwischen Leistung, Erwartung und Vermögen schadet den Schüler*innen. 

Überleistungskultur

 

 

 

 

Die Hochleistungsgesellschaft verlangt immer mehr Leistung von ihren Mitgliedern (vor allem von Kindern), ohne Rücksicht auf ihr tatsächliches Vermögen zu nehmen. Diese Überleistungskultur prägt die letzten beiden Jahrzehnte und trägt dazu bei, dass junge Menschen in einen Weg gedrängt werden, der mit Angst vor Misserfolgen und Nichtgenügen gepflastert ist. Die unverplante Freizeit und Möglichkeiten zur Selbstbestimmung werden zur Seite geschubst. Die Kinder werden uin ihrem Selbstvertrauen gelähmt.

Urvertrauen

 

nach Sigmund Freud; = die Überzeugung, dass das Leben einen Sinn hat und aus einer Schwäche eine Stärke erwachsen kann.

An die Autorin dieses Buches

Liebe Margrit Stamm

Es ist höchste Zeit, unsere Hochleistungsgesellschaft kritisch zu hinterfragen. Finden wir gemeinsam das Ventil, mit dem wir den krankmachenden Druck ablassen können, bevor der Kessel explodiert? Ich hoffe, dieses wichtige Buch öffnet vielen Menschen die Augen.

Liebe Grüsse, Barbara


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