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Alle(s) Gender. Wie kommt das Geschlecht in den Kopf? (Sigi Lieb, 2023)




Darum geht es in diesem Buch

Das ist ein Mann. Das eine Frau. Wir denken in alten Schubladen. Unsere Gesellschaft ist binär organisiert. Der Mensch ist biologisch zweigeschlechtlich. Doch die Natur ist bunter! Sie zeigt eine Vielfalt an Geschlechtsmerkmalen und Identitäten, die weit über unsere binären Geschlechterbilder hinausreicht.

Mit «Alle(s) Gender – Wie kommt das Geschlecht in den Kopf?» lädt Sigi Lieb dazu ein, eigene Stereotypen zu entdecken und sie zu hinterfragen. Die Erkenntnisse daraus können Platz für Vielfalt schaffen: gedanklich, strukturell, physisch.

Ohne ideologisch oder dogmatisch zu werden, ermöglicht die Autorin den Leser*innen, sich selbst eine informierte Meinung zu bilden.

Auch wenn sie sich hie und da als leidenschaftliche Feministin zeigt, gelingt es der Autorin, ihre eigene Meinung als eine von vielen zu positionieren. Das Buch liefert Hintergrundwissen zu vielen Debatten rund um Geschlecht, Gender, Stereotype, Patriarchat und das Selbstbestimmungsgesetz. Ich kann mir gut vorstellen, dass dieses Buch dabei helfen kann, die zum Teil hochemotionalen und festgefahrenen Diskussionen rund um SelfID und Transgender zu versachlichen.

 Du lernst in diesem Buch unter anderem, ...

  • wie unsere körperliche Geschlechtlichkeit entsteht.
  • dass es auf Körperebene neben Mann und Frau viele intergeschlechtliche Varianten gibt.
  • wie wir als Gesellschaft Geschlecht konstruieren und wahrnehmen.
  • welche Diskriminierungen damit verbunden sind.
  • welche Rolle das Patriarchat spielt.
  • wie die Situation in verschiedenen Ländern aussieht.
  • welche rechtliche Entwicklungen es gibt.
  • wie es um die aktuelle Debatte um Transgender und Selbstbestimmung in Deutschland steht.
  • und – aus meiner Sicht besonders wichtig – wie wir Geschlechterstereotype abbauen und so für mehr Chancengerechtigkeit für alle sorgen können.

Das Buch endet mit einem Glossar zum Thema Gender. Allein die Lektüre dieses Wörterbuchs trägt viel zum Verständnis von Geschlechtervielfalt bei. 

Sigi Lieb hat umfassend recherchiert und zitiert viele Studien. Für Lebendigkeit sorgen die Geschichten von Inter- und Transpersonen, die das Wissenschaftliche mit dem echten Leben echter Menschen verbinden.

Nein, das ist keine leichte Lektüre. Trotzdem lege ich sie dir ans Herz. Nimm dir auf jeden Fall genügend Zeit, damit du das Gelesene verarbeiten und für dich reflektieren kannst.

Deshalb habe ich dieses Buch gelesen

Sigi Lieb hat mir im September 2021 das «Gendern im Businessalltag» beigebracht. Seit dem Besuch ihres Seminars tauschen wir uns auf LinkedIn immer mal wieder aus. Ich bewundere Sigi für ihre Standhaftigkeit im «Gender-Sturm» und mag sehr, wie es ihr auch in herausfordernden Situationen gelingt, bestimmt und unaufgeregt zu argumentieren. Diese faktenbasierte, wissenschaftliche Herangehensweise habe ich mir auch von ihrem Buch erhofft. Ich wurde nicht enttäuscht!

Um Missverständnisse zu vermeiden: Das Buch «Alle(s) Gender» ist keine Anleitung zum Gendern. Es tritt höchstens den Beweis an, dass es möglich ist, verständlich, unterhaltsam und gendergerecht zu schreiben. Denn es ist in geschlechtergerechter Sprache verfasst.

Was ich aus diesem Buch mitnehme

  • Toleranz lässt sich nicht verordnen. Wir müssen vielfältige Meinungen und Positionen aushalten. «Wer Verständnis und Akzeptanz wachsen lassen möchte, muss Brücken bauen, Menschen abholen, das Warum erklären und auch die Bedürfnisse der anderen sehen.» (Sigi Lieb, S.164)
  • Vorurteile sind menschlich. Ich, du, wir alle haben sie! Stereotypen vereinfachen unser Leben in einer komplexen Welt. Sind wir uns dieser Gefahr bewusst, können wir achtsamer miteinander umgehen. 
  • Hinter verletzenden Äusserungen muss nicht zwingend böse Absicht stecken. Unbeabsichtigte Zuweisungen, Herabsetzungen oder Beleidigungen sind trotzdem verletzend.
  • Wie etwas gemeint ist oder was jemand fühlt, ist nicht objektiv messbar. Darum hilft es nicht herauszufinden, wer recht hat.
  • Kommunikation ist nie einseitig. Alle Beteiligten sind gemeinsam dafür verantwortlich.
  • Ich mache regelmässig den Flip-Test. Wie hört sich eine Aussage an, wenn man das Geschlecht tauscht? Klingt der Satz jetzt  schräg? Bekommt er eine andere Bedeutung? Wenn ja, ist das ein deutliches Zeichen für eine systematische Verzerrung durch geschlechtsbezogene Stereotypisierungen und Vorurteile (Gender Bias).
  • Erschreckend vielen Fachpersonen fehlt das Fachwissen zum Thema Gender! Selbst medizinisches Fachpersonal ist oft uniformiert und verwechselt Inter- und Transgeschlechtlichkeit. Dasselbe gilt für pädagogische Fachkräfte und erst recht für die Allgemeinbevölkerung. Ich merke mir: Intergeschlechtlich ist eine Person, deren Geburtsgeschlecht nicht klar 'männlich' oder 'weiblich' ist. Transgeschlechtlich ist eine Person, die sich nicht mit dem Geschlecht identifiziert, das ihr bei der Geburt zugewiesen wurde.
  • Es gibt mehr intergeschlechtliche Menschen, als ich angenommen hatte. Nämlich etwa so viele wie von Natur aus Rothaarige, ohne reproduktionsmedizinische Hilfe geborene Zwillinge oder Veganer*innen in Deutschland (2021). Selbst wenn man nur von 0.5 % Intergeschlechtlichen ausgeht, bedeutet das: In jeder Grundschule mit 200 Kindern gibt es – statistisch gesehen – ein intergeschlechtliches Kind. (mehr dazu auf S.50)
  • Auch die Zahl der Menschen, die sich zur LGBT-Community zählen, ist grösser als viele denken. 2020 wurden über 15'000 US-Bürgerinnen ab 18 Jahren nach ihrer sexuellen Orientierung gefragt (mehr dazu auf S.51). Das Ergebnis: Ein*er von sechs Erwachsenen der Generation Z sieht sich der LGBT-Community zugehörig. Das sind 16.7 % der Befragten.
  • Es gibt sehr viele Menschen, die sich nicht eindeutig als Mann oder Frau sehen. Für eine deutsche Studie (mehr dazu auf S.53) wurden im Februar 2022 2'000 Menschen zwischen 16 und 35 Jahren zum Thema gendergerechte Sprache befragt. Ein spannendes Nebenergebnis: Nur 73 % ordneten sich eindeutig als Mann oder Frau ein. 27 % (!) sahen sich irgendwo dazwischen.
  • Wer in seiner Firma gendergerechte Sprache einführen will, tut gut daran, auch andere ausschliessende Aspekte in der Kommunikation zu thematisieren. Werden neben dem Thema Gender auch Behördensprache, Anglizismen sowie Diskriminierung in Bezug auf Herkunft, Hautfarbe oder Behinderung aufgegriffen, wächst die Akzeptanz.
  • Sprache ist Ausdruck von Kultur. Sie wirkt auf sie und verändert sich mit ihr.

Menschen, an die ich beim Lesen dachte

  • an die Regenbogen-Menschen, denen ich vor allem auf Instagram sehr gerne folge und deren bunte Kreativität ich bewundere
  • an Menschen (v.a. Kinder) in meinem Umfeld, denen Gender-Rollen total egal sind, die einfach so sind, wie sie sind und andere so sein lassen, wie sie sein wollen 

Begriffe, die ich mir merken will

Ally

Menschen, die sich für diskriminierte Gruppen einsetzen, ohne selbst betroffen zu sein

Cis

eine Person, die sich mit dem Geschlecht identifiziert, das bei ihrer Geburt eingetragen wurde

Confirmation Bias

(S.245)

 

Bestätigungsfehler;

menschliche Neigung, Informationen so auszuwählen und zu interpretieren, dass unsere Erwartungen bestätigt werden

Deadnaming

 

das Ansprechen einer Transperson mit ihrem Geburtsname (Deadname), obwohl sie einen neuen Namen trägt

Dragqueen

in der Regel schwuler Mann, der sich hyperstereotyp als Frau stylt.

Flip-Test

 

 

Test, mit dem man Genderbias in Äusserungen erkennt

So funktioniert's: Tausche einfach das Geschlecht. Klingt der Satz dadurch schräg? Bekommt er eine andere Bedeutung? Dann ist das ein deutliches Zeichen für ein Genderbias.

gelesenes Geschlecht

automatisches Zuteilen einer Person zu einem Geschlecht, wenn wir sie sehen oder hören

Gender

soziales Geschlecht (im Gegensatz zu Sex/Sexus Körpergeschlecht, siehe unten)

genderfluid

 

wenn eine Person ihr Geschlecht nicht als fest wahrnimmt, sondern als fliessend – mal männlicher, mal weiblicher

Gender Mainstreaming

(S.140)

 

Konzept (UNO 1995), das dazu verpflichtet, bei allen Entscheidungen die Auswirkungen auf Männer und Frauen in den Blick zu nehmen und zu berücksichtigen

Ziel = Gleichstellung von Männern und Frauen fördern

Gendermedizin

 

(S.147)

beschäftigt sich damit, wie körperliche Männer und Frauen unterschiedliche Krankheitsrisiken oder -symptome zeigen und wie sie anders auf Medikamente reagieren

Gendersprache

(S.150)

 

versucht, unnötige Gendermarkierungen zu vermeiden 

wenn sie Gender benennt, benennt sie alle, die gemeint sind und sagt nicht das eine und meint etwas anderes

Geschlechtsidentität

das Geschlecht, dem sich eine Person zugehörig fühlt

intergeschlechtlich, intersexuell, inter

bezieht sich auf Personen, die mit gemischtgeschlechtlichen Körpern geboren werden

 

Intersektionalität

(S.142)

Mehrfachdiskriminierung

Bsp. eine behinderte, arbeitslose, schwarze, alleinerziehende Frau

LGBTQIA+

Abkürzung für Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Queer, Intersexual, Asexual und weitere

misgendern

absichtlich falsche Zuweisung eines Geschlechts beim Ansprechen einer Person

nicht-binär, non-binary

 

bezieht sich auf Menschen, die sich nicht in der Zweiteilung Mann-Frau wiederfinden oder diese ablehnen

Sexus / Sex

 

körperliches Geschlecht

Mann oder Frau oder intergeschlechtlich

Transgender

das gefühlte Geschlecht entspricht nicht dem Geburtsgeschlecht

Transition

 

Prozess, den Transpersonen durchlaufen, um ihr Geschlecht der empfundenen Geschlechteridentität anzupassen

Transvestit

als Frau gekleideter Mann, häufig als Bühnenrolle im Theater

An die Autorin dieses Buches

Liebe Sigi

An einer Stelle in deinem Buch wünschst du dir, dass wir alle gemeinsam daran arbeiten, Geschlechterstereotypen abzubauen und eine Gesellschaft zu gestalten, in der Geschlecht zwar real ist, aber keine Auswirkungen auf gesellschaftliche Chancen und Möglichkeiten hat. Das wünsche ich mir auch. Ich bin dabei!

Danke, dass du mit deiner fundierten Recherche Brücken baust und Raum für Vielfalt schaffst. Unaufgeregt und Wogen glättend.

Herzlich, Barbara


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