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Helvetias Töchter – Kampf, Streik, Stimmrecht: Acht Frauengeschichten aus der Schweiz von 1846 bis 2019 (Brügger, 2021)

Darum geht es in diesem Buch

Elisabeth Tova Bailey: Das Geräusch einer Schnecke beim Essen.

Autorin Nadine A. Brügger ist Journalistin und Historikerin. Sie ist überzeugt davon, dass wir die Vergangenheit verstehen müssen, um die Gegenwart zu begreifen. «Helvetias Töchter» tauchen in keinem Geschichtsbuch auf. Aber es hätte sie so oder ganz ähnlich im Alltag der beschriebenen Epochen geben können. Als Leser*in begleitet man die acht fiktiven Frauen in ihrem Kampf für das Frauenstimmrecht. Gut recherchierte Verweise auf Fakten sorgen für die historische Einordnung der Geschichten.

 

Die grossen Frauenfiguren aus der Schweizer Geschichte spielen in diesem Buch eine Nebenrolle. Die Hauptrollen, die gehören den vielen Schweizerinnen, die nicht im Scheinwerferlicht der Geschichtsbücher auftauchen. Die Protagonistinnen könnten unsere Ururgrossmütter, Urgrossmütter, Grossmütter und/oder Mütter sein. Sie sind Helvetias Töchter.

 


Hélène, Zürich und Genf, 1846 bis 1868 // Die «ärgerliche junge Frau, die ärgerliche Dinge tat», will mehr als sie darf. Ihr Traum war ein Studium. Eines mit Abschluss! Sie glaubt daran, dass  sich aus der Bildung der Frauen mit der Zeit eine einflussreiche Bewegung bilden wird. Je mehr sie liest und je mehr sie nachdenkt, umso überzeugter ist sie, dass sich die Frauen vereinen müssen.

Emerita, Arosa, 1915 bis 1919 // Die Welt befindet sich im Krieg. Die internationale Schwesternschaft wankt. Die junge Bündnerin Emerita arbeitet in einem Kurhaus in Arosa. Eine der Gäste entpuppt sich als englische Suffragette. Die Frau von Welt öffnet der jungen Schweizerin die Augen für bestehende Ungerechtigkeiten. Emerita will keine Lückenfüllerin mehr sein.


Luisa, Zürich, 12. bis 14. November 1918 // Luisa ist Arbeiterin und will endlich mitreden. Ein Tag nach dem Ende des Ersten Weltkrieges steht die Schweiz kurz vor einem Bürgerkrieg. Vom 12.-14. November 1918 findet der erste Generalstreik statt. Soldaten zielen auf die unbewaffnete Bevölkerung. Luisa beteiligt sich am Streik in Zürich.

Véronique, Bern & Genf, 1928-1929 // Véronique kämpft als Ehefrau und Mutter gegen das Patriarchat. Sie sammelt Unterschriften für die grösste Petition, die die Schweiz je gesehen hat. Das Schreiben, in dem die Frauen ihr Stimmrecht einfordern, verschwindet am 6. Juni 1929 in der Schublade von Bundesrat Häberlin. Er hat nicht vor, sie so bald wieder zu öffnen.


Elsa, Schaffhausen, 1938 bis 1945 // Elsa Waldvogel, Landesverräterin. Die junge Frau aus Schaffhausen versucht in der Schweiz zu Weltkriegszeiten  das Richtige zu tun und endet dafür in der Justizanstalt in Hindelbank.

Thea, Unterbäch, 1957 bis 1959 // Thea ist amerikanische Journalistin mit Schweizer Wurzeln. Für den «Bosten Chronicle» berichtet sie über das Walliser Bergdorf Unterbäch, das trotz Verbot aus Bern, seine Frauen im März 1957 an die Urne lässt.


Inez, Basel, 1968 bis 1971 // Der Bundesrat will die Europäische Menschenrechtskonvention unterzeichnen, während die Schweiz selber gegen ein Menschenrecht verstösst. Inez rebelliert gegen das «Bünzlitum» und gründet ein Frauenzimmer. Mit Diskussionsrunden und Referaten sorgt sie dafür, dass die Frauen besser informiert sind. Am 7. Februar 1971 feiert sie mit vielen anderen Frauen das JA zum Frauenstimmrecht. 

Amara, Bern, 2017 bi 2019 // Amara ist Kurdin. Sie studiert Medizin in Bern und erwartet ein uneheliches Kind. Der Vater ist Schweizer. Die Familie hat sich von ihr abgewendet. Durch einen Zufall lernt sie die Rentnerin Helga Wenger kennen. Die alte Dame hat sich früher gegen das Frauenstimmrecht stark gemacht. Sie werden Freundinnen und gegen am 14. Juni 2019 gemeinsam an den Frauenstreik. 



Deshalb habe ich dieses Buch gelesen

Das Gleichstellungsgesetz trat am 1. Juli 1996 in Kraft. Ich war 16 Jahre alt. Aufgewachsen in einem sehr gleichberechtigten Haushalt hat es mich damals nicht interessiert. Ich wusste nichts von der Welt. Heute ist das anders. Die «Frauensache» – die im übrigen auch eine «Männersache» ist – beschäftigt mich. Ich engagiere mich. Zum Beispiel als Redaktionsleiterin von BEEHIVE – das Magazin für berufstätige Frau mit Kind.

Am 14. Juni 2019 nahm ich als Mutter von zwei Kindern (Bub und Mädchen) und Selbständige am Frauenstreik teil. Über eine halbe Million Frauen gingen an diesem Tag für die Gleichstellung auf die Strasse.

Fotos «Der Frauenstreik vom 14. Juni 2019» von Barbara Zesiger:

Fotos «Der Frauenstreik vom 14. Juni 2019» von Barbara Zesiger

Am Frauenstreik, 14. Juni 2019 (Bundesplatz, Bern)
Am Frauenstreik, 14. Juni 2019 (Bundesplatz, Bern)

Hier einige meiner persönlichen Gründe für die Teilnahme am Frauenstreik 2019, der grössten politische Mobilisierung seit dem Generalstreik 1918:⠀

  • Ich wünsche mir für unsere Kinder, dass sie in Zukunft in einer Gesellschaft leben, in der niemand diskriminiert wird.
  • Ich möchte, dass unsere Kinder erkennen, dass es sich lohnt, für eine Sache einzustehen und sich, wenn nötig, gegen Ungerechtigkeiten zu wehren.
  • Mit unserer Familie haben wir unsere Form der Vereinbarkeit gefunden. Wir haben grosses Glück! Das geht nicht allen so. Sollte es aber.
  • Gleichwertige Arbeit verdient gleichen Lohn! Im Durchschnitt verdient eine Frau für die gleiche Arbeit 18% weniger als ein Mann. 44% des Lohnunterschieds sind nicht durch Faktoren wie Bildung oder Stellung erklärbar. Das ist diskriminierend!
  • Unser Schulsystem bremst arbeitende Mütter (und Väter) aus. Vor allem die Mittagspause zwingt viele Frauen in die Teilzeitarbeit. Das rächt sich im Alter in Form von niedrigen Renten.
  • Mütter (und Väter) sind keine Übermenschen. Wenn sie arbeiten, sind sie mehrfachbelastet. Sie brauchen Unterstützung!
  • Vereinbarkeit klappt nur gemeinsam! Mütter UND Väter müssen am selben Strang ziehen. Das geht nur, wenn die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen dafür gegeben sind.
  • Der grösste Teil der unbezahlten Arbeit wird von Frauen und Müttern gestemmt. Der Wert: 400 Milliarden Franken im Jahr!
  • Nach der Geburt unseres Sohnes habe ich mich 2012 selbständig gemacht. Ich möchte andere Frauen – insbesondere Mütter — ermutigen, selbstbewusst ihren Weg zu gehen. Lasst uns zusammenstehen! Unsere gegenseitige Unterstützung ist sooooo wertvoll. #werisebyliftingothers⠀

Was ich aus diesem Buch mitnehme

  • Wer über das Gestern Bescheid weiss, versteht das Heute besser. Ich bin erschrocken, wie wenige ich eigentlich über die Geschichte der Schweizer Frauen weiss. Und – hey! – ich habe Zeitgeschichte im Nebenfach studiert! Wie wenig wissen dann Menschen darüber, die sich nicht besonders für Historisches interessieren?! Dieses Buch sollte an Schulen zur Pflichtlektüre werden. Liebe Lehrpersonen, macht Projektwochen und Schultheater daraus!
  • Wir Schweizer Frauen schulden unseren Vorfahrinnen eine Menge. Für das Stimmrecht, das für viele von uns heute ganz selbstverständlich ist, haben andere Frauen 100 Jahre lang gekämpft. Für mich ist es Ehrensache meine Meinung  an der Urne kund zu tun.
  • Am Ende bleibt Wut im Bauch. Das geht einfach alles viel zu langsam! Trotz hundertjährigem Kampf haben wir immer noch nicht Gleichstellung erreicht. Und das trotz eines Gesetzes, das diese eigentlich seit 1996 garantiert... Es gibt noch viel zu tun!  
  • Ziele erreicht man gemeinsam. Wer mich kennt, weiss: ich bin eine Netzwerkerin. Mir ist es wichtig, mit anderen unterwegs zu sein und gemeinsam Probleme anzupacken. 

Meine Lieblingspassagen

Hélène Sophie war ein ärgerliches Kind und die Jahre machten sie nicht besser. Sie wuchs zu einer ärgerlichen jungen Frau heran, die ärgerliche Dinge tat. (Hélène, Zürich & Genf, 1846-1868 / S. 7)

«Es ist nur so, dass es die Dinge verändert, wenn man sich nicht selbst dafür entscheiden darf. Der Wille von jemand anderem kann ein sehr grelles Licht auf sie werfen.» (Hélène, Zürich & Genf, 1846-1868 / S. 37)

«Ich will den moralischen und geistigen Fortschritt der Frau erreichen. Ich will Schritt für Schritt die Verbesserung ihrer Stellung in der Gesellschaft erreichen. Das geht nur durch Erlangen der menschlichen, zivilen, wirtschaftlichen, sozialen und politischen Rechte. Ich fordere die Gleichberechtigung auf dem Gebiet der Entlöhnung, des Unterrichts, des Familienrechts und vor dem Gesetz.» (Originalzitat von Marie Goegg-Pouchoulin aus dem 19. Jahrhundert! / Hélène, Zürich & Genf, 1846-1868 / S.20)

Sie möchte die Gleichstellung gemeinsam mit den Männern erreichen. Weil es doch auf der Hand liege, dass Männer und Frauen sich aufs Beste ergänzen. (Hélène, Zürich & Genf, 1846-1868 / S.47)

Eine alleine hatte keine Kraft. Doch wenn die Hälfte der Gesellschaft etwas forderte – wie konnte die andere Hälfte dann noch Nein sagen? Und um die Frauen zu vereinen, musste man sie informieren. Sie mussten erkennen, welches Unrecht ihnen angetan wurde. (Hélène, Zürich & Genf, 1846-1868 / S.48)

Manchmal fühlte Emeritas Kopf sich an wie ein wolkenloser Abendhimmel, an dem Stunde um Stunde mehr Sternen zu leuchten begannen. (Emerita, Arosa, 1915-1919 / S.86)

Ein historischer Tag. Luisa bekommt Gänsehaut. Dann fällt der erste Schuss. (Luisa, Zürich, 12.-14.11.1918 / S.113)

Das Gefühl von Macht [...], in jenem Augenblick, in dem alle Frauen zusammengestanden waren, das würde sie nicht so schnell wieder vergessen. Und auch nicht die Tatsache, dass sie, Luisa, aufbegehrt hatte, als sie auch hätte schweigen können. (Luisa, Zürich, 12.-14.11.1918 / S.121)

[...] Luisa [muss] aufstehen, auch wenn es einfacher gewesen wäre, sitzen zu bleiben. Und darum stehen auch alle anderen auf. Und jetzt, wo alle die Bänke zurückgeschoben haben, jetzt muss Luisa auch etwas sagen. [...] Nun stehen Männer Schulter an Schulter mit den Frauen. (Luisa, Zürich, 12.-14.11.1918 / S.125f.)

«Wenn [die] Arbeit [der Frauen] das Fundament der Zivilisation ausmacht, wie hoch muss diese Zivilisation dann die Nase in die Luft strecken, damit sie ihr eigenes Fundament so geflissentlich und umfassend übersehen kann.» (Véronique, Bern & Genf, 1928-1929 / S.133)

Wir Frauen leisten unseren Teil dazu, dass diese Gesellschaft, diese Schweiz funktioniert. Warum werden wir noch immer behandelt wie Menschen zweiter Klasse? Wie Kinder, die zwar mithelfen dürfen, die Entscheidungen aber den Erwachsen zu überlassen haben. Das muss sich ändern, entschied Véronique. (Véronique, Bern & Genf, 1928-1929 / S.136)

Lotti, zwei Tage nach ihrer Hochzeit mit Erich. In der Hand einen Brief [ihres Arbeitgebers], darauf stand in schwarzen, kantigen Schreibmaschinenbuchstaben: Kündigungsschreiben. Grund: Eheschliessung. (Elsa, Schaffhausen, 1938-1945 / S.155)

«Die Frauen sind genauso Teil des Problems. Sie lassen sich wirtschaftlich und sexuell vollständig knebeln. Das geht soweit, dass sie gar nicht wissen, was sie wollen könnten.» (Zitat von Iris von Roten / Thea, Unterbäch , 1957-1959 / S.183)

«Bern. In der eidgenössischen Abstimmung ist das Frauenstimmrecht mit grosser Mehrheit angenommen worden.» (Originalton der Nachricht des Schweizer Radio DRS vom 07.02.1971 / Inez, Basel , 1968-1971 / S.303)

An diese Menschen habe ich beim Lesen öfter gedacht

An alle Frauen, mit denen ich am 14. Juni 2019 in Bern ein Zeichen setzte: Meine Mutter Irmgard Imboden, Dorothee BrumannSimone Hopf, Sandra Pfyffer BrikerMansing Tang und alle anderen, die mit uns auf den Bundesplatz strömten.

An alle Frauen, mit denen ich mich verbunden fühlen – zum Beispiel in den Facebook-Gruppen BEEHIVE-Community und Komplizierte Frauen Schweiz.

An die Frauen in meiner Familie, Mütter und Töchter – jene von gestern, jene von heute und jene von morgen.

Das würde ich der Autorin dieses Buches gerne sagen

Liebe Nadine,

 

selten hat mich ein Buch mehr berührt. Zurück bleibt ein Gefühlschaos: Viel Liebe und Stolz für die Frauen, die vorangingen. Aber auch eine Menge Wut im Bauch. Eine eigenartige, aber kraftvolle Mischung.

 

Wir sind noch nicht am Ziel. Der Weg zur Gleichstellung ist noch weit... Wir müssen den Rest gemeinsam gehen. Egal welchem Geschlecht wir angehören. Für uns selbst und für die Generationen, die uns folgen. Für eine moderne Schweiz. Vorwärts!

 

PS: Ich wünsche mir ganz fest eine Mini-TV-Serie zu deinem Buch.

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